ITH 2018: Zwischen Räten, Genossenschaften und Mitbestimmung

 

Die TeilnehmerInnen der 54. Internationalen Tagung der HistorikerInnen der Arbeiter- und anderer sozialer Bewegungen haben sich verschiedenen Formen der Demokratisierung der Arbeitswelt befasst. Ulf Teichmann stellt in seinem Text die Themenschwerpunkte dar.

 

 

 

Die 54. Konferenz der ITH (Internationale Tagung der HistorikerInnen der Arbeiter- und anderer sozialer Bewegungen) widmete sich „Versuche[n,] demokratische Errungenschaften aus der Sphäre der Politik […] in die Welt der Arbeit und Wirtschaft zu übertragen“. Und schon die Einleitung zum Programm, das das Feld so umrissen hatte, machte deutlich, dass wir es hier mit einem – zumal in „globaler Perspektive“ – disparaten Feld zu tun haben: Von Produzentenkooperativen, ob nun als solche gegründet oder nach Betriebsbesetzung übernommen, über Arbeiterräte, revolutionär oder als sozialpartnerschaftliche Mitbestimmungsorgane, bis zu Experimenten mit Arbeiterselbstverwaltung wie in Jugoslawien, kamen durchaus unterschiedliche Themen zur Sprache, die – das wurde im Laufe der Konferenz deutlich – eher in getrennten Forschungsdiskursen verhandelt werden. Als einigendes Band sollte daher die Frage des Verhältnisses dieser verschiedenen Formen der Partizipation von Arbeiter_innen zu unterschiedlichen Konzepten von Demokratie dienen.

 

Schlaglichter der Konferenz

Im Folgenden werden einige Schlaglichter auf die Präsentationen und Diskussionen in diesem Spannungsfeld geworfen und abschließend Überlegungen zu von der Tagung erzeugten Erkenntnissen und aufgeworfenen weiteren Fragen angestellt. Eine angemessene Würdigung jedes der mehr als 20 Vorträge ist dabei nicht angestrebt.

 

 

 

Selbstverwaltung, Kooperativen und Produktionsgenossenschaften

 

Einen Schwerpunkt auf Produktionsgenossenschaften legte Dario Azzellini in seiner Keynote über die „vielfältigen Facetten der Demokratie am Arbeitsplatz in Raum und Zeit“. Von der positiven anthropologischen Grundannahme ausgehend, dass die Menschheitsgeschichte eine Geschichte der Kooperation sei, zeichnete er die Entwicklung von Arbeiterkooperativen vom alten Ägypten bis in die Gegenwart in groben Linien, bevor er zahlreiche, in der mitteleuropäischen Öffentlichkeit häufig wenig bekannte Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart in verschiedenen Weltregionen vorstellte. Die Frage, wieso Kooperativen trotz dieser zahlreichen Anläufe und der angenommenen menschlichen Neigung zur Kooperation nicht zur dominanten Form wirtschaftlicher Organisation geworden sind, erklärte Azzellini mit Rosa Luxemburgs These, dass, wer sich nicht dem kapitalistischen System anpasse, von diesem absorbiert werde. Zudem, ergänzte er mit Blick auf die Geschichte, hätten Regierungen unterschiedlicher Ausrichtungen Selbstverwaltungsversuche nach einiger Zeit stets unterbunden.

 

Den Fokus auf gegenwärtige Kooperativen griffen Orestis Varkarolis und Cian McMahon wieder auf, die sich mit dem Wiedererstarken gemeinschaftlichen Wirtschaftens im Zuge der Krise von 2008ff. an den Beispielen Griechenland (Varkarolis) und Irland (McMahon) auseinandersetzten. Dass diese Forschungen vor allem die Zukunft des Wirtschaftens im Blick haben, zeigte vor allem McMahon, der Kooperativen als Modelle nachhaltigen Wirtschaftens präsentierte, für deren Durchsetzung es doch einer anderen politischen Kultur, auch in den Gewerkschaften, bedürfe.

 

 

 

Arbeiterräte zwischen Revolution und Sozialpartnerschaft

 

Während die Beschäftigung mit Produktionsgenossenschaften den Blick auf die demokratische Organisation der Arbeit lenkt, ging es der von Ralf Hoffrogge in den Blick genommenen Rätebewegung in der Novemberrevolution 1918/19 um die demokratische Organisation von Politik und Wirtschaft vom Arbeitsplatz aus. Hoffrogge skizzierte ein dreistufiges Entwicklungsmodell von Rätebewegungen, das im vorgestellten Beispiel unvollständig blieb. Nachdem die revolutionären Obleute unabhängig von den gewerkschaftlichen Organisationen von 1916 bis 1918 die Mobilisierung angefacht hätten (Phase 1), sei es im Winter 1918/1919 zur Phase 2, der Übergangsregierung gekommen. Die Zusammenarbeit von USPD und MSPD in dieser Übergangsregierung und das Eintreten letzterer für die parlamentarische Demokratie habe die Entwicklung von Phase 3, einer nicht-kapitalistischen Produktionsweise jedoch letztlich verhindert.

 

 

Doch nicht nur die deutsche Mehrheitssozialdemokratie hielt das Rätekonzept nach dem ersten Weltkrieg für nicht geeignet, den Kapitalismus zu überwinden, sondern auch die österreichischen Gewerkschaften wie Brigitte Pellar in ihrem Vortrag über „Mitbestimmung, Selbstermächtigung und Selbstverwaltung in Österreich nach den beiden Weltkriegen“ deutlich machte. Stattdessen wurde hier in Anlehnung an Otto Bauer ein Konzept verfolgt, das über die Demokratisierung der Wirtschaft in der parlamentarischen Demokratie den Weg zum Sozialismus weisen sollte.

 

 

Mit dem Fabrikrat bei FIAT Mirafiori in den 1960er/1970er-Jahren nahm Dietmar Lange einen Akteur in den Blick, der weitgehende Vorstellungen von innerbetrieblicher Mitbestimmung vertrat. Zwei Konzepte stellte er dabei als zentral vor: die Arbeiterautonomie, die die Arbeiter_innen von der kapitalistischen Rationalität, aber auch von politischen Vorgaben beispielsweise durch die Richtungsgewerkschaften befreien sollte, und die Arbeiterkontrolle, die vor allem die Kontrolle über den konkreten Arbeitsplatz und die Arbeitsbedingungen meinte. Arbeiterautonomie und Arbeiterkontrolle galten dabei als politische Strategie und zugleich als Ziel, was Lange als „radikalen Bernsteinismus“ kennzeichnete. Gemein war beiden Konzepten dabei die Abgrenzung von der Idee der Mitbestimmung, da diese sich der Kapitallogik unterwerfe.

 

 

Diese Form von Mitbestimmung, wie das viel zitierte „deutsche Modell“, waren ein weniger präsentes Thema. Das mag zusammenhängen mit dem zwar unausgesprochen gebliebenen, aber dennoch anscheinend wirksamen Wunsch, sich mit historischen Fällen zu beschäftigen, die in Bezug auf Partizipation in der Arbeitswelt über den Status quo hinausweisen.

 

 

Zwar ist hiergegen nicht viel einzuwenden, doch zeigte beispielsweise der Beitrag von Sara Lafuente Hernández vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut, dass es sich auch aus Gegenwartsperspektive lohnte, die Entwicklung der Mitbestimmung in europäischen Ländern genauer in den Blick zu nehmen. Zum einen, weil ihr Beitrag deutlich machte, dass „der Aufbau europäischer Mitbestimmung“, so der Titel, auf Arbeitnehmer_innenseite häufig mit unterschiedlichen nationalen Mitbestimmungskulturen zu kämpfen hat. Hier scheint ein genaueres Verständnis für diese historisch gewachsenen Differenzen unter den Akteur_innen angeraten zu sein. Zum anderen, weil die Arbeitgeberseite dazu neigt, internationale Vereinheitlichungen von Mitbestimmungsregelungen für eine Angleichung nach unten zu nutzen. Und dies lässt Modelle von Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft auch Verfechter_innen einer größtmöglichen Partizipation in einem freundlicheren Licht erscheinen, als der Vergleich zu selbstverwalteten Kooperativen.

 

 

 

Erkenntnisse und offene Fragen

 

Nur in Ansätzen ist es gelungen, die verschiedenen Forschungsstränge über die Grenzen der Themen, aber auch über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg miteinander kommunizieren zu lassen. Das hohe, selbst gesteckte Ziel, die „oft synonym oder überlappend verwendeten Begriffe und Konzeptionen von Selbstverwaltung, ArbeiterInnenkontrolle, Beteiligung, Mitbestimmung und Autogestion“ zu klären und zu kategorisieren, blieb die entscheidende Leerstelle. Über György Szélls Feststellung aus der Abschlussdiskussion, dass Partizipation die gemeinsame Klammer der verschiedenen Dimensionen des Gegenstandes sei, gingen die Erkenntnisse hier nicht hinaus.

 

 

Die Frage der Auswirkungen von Demokratie am Arbeitsplatz auf gesamtgesellschaftliche Demokratisierungsprozesse wurde nur am Rande thematisiert: von Azzellini mit Blick auf Venezuela eher skeptisch, von Wolfgang G. Weber mit Bezug auf eigene Forschungen mit einem vorsichtigen Optimismus. Auswirkungen von Arbeiterselbstverwaltung auf die politische Kultur im weiteren Sinne thematisierte auch Jasmin Ramović, der einen Zusammenhang zwischen der Erfahrung der Arbeiterräte in Jugoslawien und der Überwindung ethnischer Trennungen konstatierte. Ebenfalls nur gestreift wurden mögliche antiemanzipatorische Tendenzen in Rätebewegungen oder selbst verwalteten Unternehmen. So stellte Frank Georgi auch autoritäre Elemente in der „Gemeinschaft der Arbeit“ von Boimandau vor, einer Uhrenfabrik, die unter deutscher Besatzung in Frankreich gegründet worden war, und betonte in der Diskussion, dass Ideen von „Gemeinschaft“ immer ambivalent seien.

 

Partizipation am Arbeitsplatz ist ein faszinierendes Thema und angesichts der Entwicklung von Arbeit 4.0 von großer Gegenwartsrelevanz. Die Geschichte dieses Themas präsentierte sich auf dieser Tagung als geprägt von einer Vielfalt häufig kurzlebiger oder kleinräumiger Beispiele. Die angestrebte, vergleichende Synthese steht noch aus. Doch für diese sollte die europäische Labour History ihren räumlichen Fokus noch deutlich weiten. Denn zwar erwähnte Azzellini in seiner Keynote zahlreiche Beispiele von Selbstverwaltung aus allen Weltteilen, doch war Peyman Jafaris Beitrag über die Rolle von Räten in der Iranischen Revolution von 1979 der einzige, der kein europäisches Beispiel behandelte.

 

 

Abschließend hervorgehoben sei noch die diesjährige öffentliche Abendveranstaltung, die deutlich machte, wie sehr die Gegenwartsperspektive auf das Tagungsthema von der Verteidigung bestehender Errungenschaften geprägt ist. Unter dem Titel „Ohne Selbstverwaltung keine Sozialversicherung. Über das historische Ringen um eine selbstverwaltete Arbeiterkammer und Sozialversicherung“ lenkten die Arbeiterkammer Oberösterreich und die ITH die Aufmerksamkeit auf bedrohte Errungenschaften der Arbeiter_innenbewegung durch die österreichische Bundesregierung. Nachdem Franz Molterer von der Arbeiterkammer Oberösterreich die geplanten Einschränkungen der Handlungsfähigkeit der Arbeiterkammern und der Selbstverwaltung – beispielsweise durch Einschränkung der Finanzierung –  skizziert hatte, legte Brigitte Pellar eindrucksvoll dar, welcher lange historische Weg gegangen werden musste, um den Status quo zu erreichen. Der gemeinsame Tenor war dabei klar: Sind die lange gewachsenen Institutionen in ihrer gegenwärtigen Form erst einmal zerstört, wird man sie nicht ohne weiteres wieder aufbauen können.

 

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