Die Rolle der Gewerkschaften in den Wendejahren 1989/1990 findet selten Beachtung. Im Rahmen einer Diskussion der Johannes-Sassenbach-Gesellschaft haben ProtagonistInnen Ende September über ihre Erfahrungen als GewerkschafterInnen in der Wendezeit berichtet.
Von Egbert Biermann
Vor 30 Jahren gab es eine spannende und bewegte Zeit. Die Bürgerinnen und Bürger brachten die DDR ins Wanken. Welche Rolle
spielten die Gewerkschaften sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in West und Ost bei diesem Beginn der Transformation. Die Johannes-Sassenbach-Gesellschaft e.V. hat am 26. September 2019
beim IG BCE-Landesbezirk Nordost in Berlin eine Protagonistin und einen Protagonisten dieser Zeit in einem Podium zusammengebracht. Der Titel: Die deutschen Gewerkschaften 1989/1990,
Gewerkschaftliche Zeitzeugen aus Ost und West berichten. Renate Hürtgen aus Berlin-Ost und Hermann von Schuckmann aus Berlin-West. Zwei Personen mit einer unterschiedlichen Ausgangsbasis:
Mitglied einer basisdemokratischen Oppositionsbewegung in der DDR und Betriebsratsvorsitzender eines West-Berlin Metallbetriebs, Mitglied der IG Metall.
Gewerkschaften in der Wendezeit: Spannbreite der Positionen
Ihr unterschiedlicher Blick auf die damalige Wirklichkeit spiegelte die Spannbreite der Positionen wider: hier der Versuch eines eigenen Weges, der keine Mehrheit fand, dort der Einsatz bewährter gewerkschaftlicher Instrumente des Westens, weil es keine Alternative gab, denn der Weg in die kapitalistische Wirtschaftsordnung war mehrheitlich gewollt. Renate Hürtgen meinte, dreißig Jahre später könnten die Gewerkschaften doch zugeben, dass sie einen alternativen Weg in der DDR nicht unterstützt hätten. Die aus dem Westen stammenden Gewerkschaftsfunktionäre hätten den Vertreterinnen und Vertretern einer eigenständigen Entwicklung in den Belegschaften nicht zugehört. Zwar würde sie nicht sagen, das westdeutsche System sei übergestülpt worden. Aber sehr wohl sei der Vorwurf berechtigt, dass Alternativen zum bisher Praktizierten von den Vorständen nicht oder zu wenig beraten worden wären. Es hätte auch in der IG Metall in einigen Zirkeln sehr wohl Konzeptentwicklungen gegeben, die nicht zu einer Übernahme westdeutscher Strukturen in Ostdeutschland geführt hätten. Sie bemängelte, dass diese aber über die Zirkel nicht hinausgekommen wären. Hermann von Schuckmann machte vor seinem Erfahrungshorizont deutlich, dass für ihn mit der mehrheitlichen Wahl der CDU in der Volkskammerwahl am 18. März 1990 klar gewesen sei, dass der Kapitalismus übernommen wird. Wie man in diesem Wirtschaftssystem die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vertritt, damit habe er Erfahrungen gehabt. Diese wollte er dann für die ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen einsetzen. Dazu gehörten klassische Instrumente wie Tarifvertrag und Streik genauso wie die betriebliche Mitbestimmung. Mehrfach machte der ehemalige Erste Bevollmächtigte der IG Metall In Ludwigsfelde deutlich, dass auch die Erwartungshaltung der ostdeutschen Beschäftigten ein Problem bei der Gestaltung des Übergangs war. Aus seiner Anschauung beschrieb er die Verfassung von Produktionsanlagen in der DDR: 1/3 veraltet, 1/3 modern, mit veralteten Produkten, 1/3 eigentlich mit Zukunftsoption, doch waren am Ende auch deren Produkte zu DM-Preisen nicht zu verkaufen (so beispielsweise das DDR-LKW Werk, deren LKW‘s vor allem in osteuropäische Staaten exportiert worden waren, zu DM-Preisen aber keine Käufer mehr fanden).
Gewerkschaftliches Engagement als Spagat
In dieser Lage wäre das alltägliche gewerkschaftliche Engagement immer ein Spagat zwischen Wünschbarem und Machbarem gewesen.
Viele hätten aber das Machbare als Niederlage der Gewerkschaften angesehen und deshalb die Mitgliedschaft gekündigt.
Renate Hürtgen zitierte zwei Gewerkschaftsfrauen, die das schwierige Verhältnis zwischen Betriebsräten und Vertrauensleutekörpern
für unverständlich hielten, denn die Vertrauensleute seien doch die wahren Vertretungen der Bewegung.
Die Beiträge aus dem Kreis der Zuhörerinnen und Zuhörer unterstrichen noch mal die Komplexität der damaligen Verhältnisse. Es gab letztlich keinen einheitlichen Weg, es gab für die verschiedenen Branchen, die jeweiligen Betriebsgrößen sowie von den gewerkschaftlichen Kulturen geprägte ganz unterschiedliche Herangehensweisen an den betrieblichen Alltag.
Fragen des
gewerkschaftlichen Neubeginns im Osten unbeantwortet
Nur gestreift wurde ein anderes großes Thema des Transformationsprozesses: Die Arbeit der Treuhandanstalt. In seinem Schlusswort verdeutlichte der Vorsitzende der Sassenbach-Gesellschaft Detlev Brunner, dass der Gewerkschaftsarbeit sowie der Gewerkschaftspolitik im Prozess des Übergangs noch immer nicht genügend Aufmerksamkeit in der historischen Forschung gewidmet werde. Nach wie vor seien viele Fragen des gewerkschaftlichen Neubeginns auf dem Gebiet der ehemaligen DDR noch unbeantwortet, das gelte auch für das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Treuhandanstalt. Deutlich war allen Anwesenden, dass hier in nächster Zeit auf historischer Forschung basierende Diskurse erforderlich sind. Hierzu könnte die Sassenbach-Gesellschaft einen Beitrag leisten.